die Leidenschaft des Wahns – I

6 Mär

Mit zittrigen Fingern stecke ich mir meine fünfte Zigarette an. Oder meine zehnte. Ich zähle nicht mehr, seitdem ich weiß, dass ich immer welche bekomme, wenn ich sie brauche. Wenn man in der Psychiatrie ist, bekommt man nur eine begrenzte Anzahl. Nicht so, wenn man mit dem Krankenpfleger Paul schläft. Ich weiß nicht, ob er mir Zigaretten gibt, weil ich mit ihm schlafe oder ob ich mit ihm schlafe, um Zigaretten zu bekommen. Aber das spielt keine Rolle.

Die Bäume verlieren ihre Blätter und ich langsam meinen Verstand. Aber auch das spielt keine Rolle mehr. Nichts spielt noch eine Rolle. Aber das gebe ich nicht zu, zumindest nicht vor mir. Diese Erkenntnis wird mir erst Jahre später kommen. Schlagartig und meine neu aufgebaute, heile Welt zerstören. Aber bis dahin gibt es noch viele Leichen zu beseitigen und viele Löcher zu füllen. Aber auch Löcher füllen funktioniert nie ganz. Es ist mehr, als würde man feste Stämme drüber legen, ein Gitter bilden und es dann mit Laub verdecken. Um es nicht zu sehen, aber irgendwo im Hinterkopf weiß man genau, wo es sich befindet und wie man es zum Einstürzen bringt. Aber zuerst gilt es diese Gitter zu bauen. Das funktioniert aber nicht mit Medikamenten. Das ist mir sehr wohl klar. Nur sonst niemandem hier.

Es funktioniert eigentlich nicht mehr viel. Außer das Atmen, an guten Tagen, wenn die Panik mir nicht die Luft abschnürt. Oder Paul, der seine Brust so fest an meine presst, wenn er nachts auf mein Zimmer kommt, dass ich Angst habe, meine Rippen würden brechen. Aber das spüre ich in Wirklichkeit auch nicht mehr. Weder den Schmerz auf meiner Brust, noch den verschwitzen, laut stöhnenden Paul.

Gegen Löcher in Wänden gibt es Spachtelmasse. Gegen Löcher in Zähnen gibt es Amalgan oder Kunststoff. Gegen Löcher im Selbst gibt es nichts. Antidepressiva und Rum fallen einfach so hindurch, betäuben für den Hauch einer Sekunde, um dann gänzlich in der Leere zu verschwinden.

Ich bin alleine. Eine Erkenntnis, die mich Tag für Tag schlagartig aufs Neue trifft. Nur Henry ist noch da. Seine Hand liegt auf meiner, während er mir erzählt, dass alles gut wird, wenn ich daran arbeite. Henry war schon immer der rationale Teil meiner Selbst. Dass er nicht existiert, weiß ich. Trotzdem halte ich an ihm fest, weil er das einzig, nicht verrückte in mir ist. Das einzige, was mich noch dazu bringt morgens aufzustehen. Ich liebe Henry. Weil er der gute Teil von mir ist. Dass mein Unterbewusstsein sich dafür einen Mann erdacht hat, erscheint merkwürdig. Aber das ist es nicht. Weil Männer immer mehr für mich waren, besser. Weil sie meine Stützen sind. Weil sie meine Familie sind. Und weil sie immer diese Ruhe für mich ausstrahlen. Henry ist ruhig, rational, ehrlich und dabei einfühlsam, direkt und immer neben mir.

Emma ist da anders. Emma ist wie ich, an ganz schlechten Tagen. Ginge es nach ihr, wäre alles schon längst zu Ende. Emma wird am Längsten bleiben. Sie ist hartnäckiger als Henry. Sie hat sich in mir festgebissen und saugt mir das Leben aus, flößt mir den Wahn ein. Mit ihrer zuckersüßen Stimme. Der sanften Melodie. Emma ist die Leidenschaft des Wahns. Emma ist der Wahn. Emma ist mein Wahn. Der krankmachende, sich verbeißende, mich auffressende Wahn. Die Hand, die mich ins Dunkle führt. Die Hand, die mich in den Abgrund drückt. Die Hand, die auf meinen Brustkorb drückt, wenn die Angst kommt. Die mir die Luft abschneidet. Die mein Herz hält und presst und presst, bis der Schmerz so groß wird, dass ich ohnmächtig werde.

Emma ist das Ende. Entweder sie oder ich. Der letzte Kampf. Die große Schlacht. Gegen den Wahn verlieren heißt sich ihm völlig hingeben, alles zerstören, alles beenden. Gewinnen erscheint utopisch. Weil man gegen sich selbst nicht gewinnen kann. Denn Emma bin ich. Mein schlechtes Ich, mein sich selbst zerstörendes Ich. Emma ist mein Endgegner. Ich bin mein Endgegner. Diesen Kampf werde ich mit blutverschmierten Händen und Wunden, die tiefer gehen als jedes Fleisch, verlassen, egal wie er ausgeht. Der Schmerz wird bleiben. Die Wunden auch. Weil gegen diese Art von Wunden kein Kraut gewachsen ist.

Henry wird mir mehr wie eine Erinnerung an einen guten Freund bleiben. Jemand Reales. Erinnerungen an Gespräche in Cafés über das Leben, die Liebe und den ganzen Rest. Erinnerungen an eine imaginäre Hand, die mich gehalten hat, die mich am Leben gehalten hat. Henry war immer Sinn. Henry war Leben. Henry war, was ich sein wollte. Henry war in Wirklichkeit nur eine Verkörperung von Dominik, den ich noch nicht gehen lassen konnte. Den ich nie gehen lassen werden kann.

Mein Mittagessen besteht aus Kartoffelpüree, grauem Fleisch, zerkochtem Gemüse, fünf Tabletten und vier Zigaretten. Dazu gibt es Himbeersaft. Etwa vierzig Patienten, verteilt auf Vierertischen. Ich sitze alleine. Weil ich es so will. Weil niemand mehr bei mir sitzen will. Sie nennen mich den Todesengel.

Ich teilte mir ein Zwei-Bett-Zimmer mit vier verschiedenen Mädchen, zwei haben sich verlegen lassen, zwei haben sich umgebracht. Die nächste werde ich am kommenden Morgen finden, wenn ich im Badezimmer in ihrem Blut ausrutsche. Meine Ärzte sagen mir, dass es mich aufregen, verletzen, schockieren müsste. Aber das tut es nicht. Das wird es auch nie.

Nach dem Essen irre ich verloren durch die Gänge. Ohne Gefühl für Zeit und Raum. Gefangen. In Mir. Emma folgt mir auf Schritt und Tritt. Ich höre ihr zu, aber antworte nicht mehr. Das habe ich mir abgewöhnt. Es hat sowieso keinen Sinn mit ihr zu diskutieren, sie gewinnt. Immer. Ausnahmslos. Außerdem ist die ganze Anstalt videoüberwacht. Keiner lässt dich gehen, wenn du mit der Leere sprichst. Nicht so, wenn die Leere mit dir spricht.

7 Antworten to “die Leidenschaft des Wahns – I”

  1. Hendrik März 6, 2011 um 4:08 pm #

    Die Geschichte (ich gehe mal davon aus dass es sich um eine Fiktion handelt) lässt einen im ersten Moment sprachlos sitzen. Aber gerade den Teil mit der Leere kenne ich gut und ist leider nur zu real.

  2. giselzitrone März 6, 2011 um 5:59 pm #

    Ist eine schöne und schockierende Geschichte zugleich
    aber kann mich gut reindenken liebe Grüsse giselzitrone

  3. Timm Kandziora März 6, 2011 um 10:37 pm #

    Der Rum verkörpert Realität.

  4. Jane März 7, 2011 um 4:17 pm #

    Wundervoll! Gefällt mir sehr..

  5. herzaushonig Juni 12, 2011 um 11:12 am #

    schön oder wundervoll oder irgendwas derart passt von der reinen wortbedeutung her irgendwie gar nicht.
    macht einfach nur sprachlos, nachdenklich und lässt einen seufzend hier sitzen, während man sich beim lesen immer mehr einkugelt.
    gut geschrieben. gefällt mir, auch wenns schwer macht.

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  1. Die Leidenschaft des Wahns – II « herzintakt - Juni 11, 2011

    […] Der zweite Teil des Kapitels „Die Leidenschaft des Wahns“. Den ersten Teil gibt es hier. Ich habe lange überlegt, ob ich ihn wirklich veröffentlichen soll. Länger werde ich wohl bei […]

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